In der Schenke
Fast den ganzen Tag über war Cugel durch eine öde, karge Region gewandert, in der nichts anderes wuchs als nur Besengras. Dann aber, nur einige wenige Minuten vor Sonnenuntergang, erreichte er einen breiten Strom, an dessen Ufer eine Straße entlangführte. Eine halbe Meile weiter rechts erhob sich ein hohes Gebäude aus Holz und dunkelbraunem Stuck – offenbar eine Schenke. Dieser Anblick erfreute Cugel sehr, denn er hatte seit vielen Stunden nichts mehr gegessen und die letzte Nacht in einem Baum verbracht. Zehn Minuten später öffnete er die schwere eisenbeschlagene Tür und betrat das Haus.
Er ging durch eine Eingangshalle. Rechts und links sah er kristallförmige Fenster, und ihre Einfassungen waren so alt, daß sie einen lavendelfarbenen Ton angenommen hatten. Das Licht der untergehenden Sonne brach sich im Glas und rief Hunderte von bunten Reflexen hervor. Vom Aufenthaltsraum her hörte Cugel die fröhlichen Stimmen von Gästen, das Klirren von Töpfen und Tellern, und er roch harziges Holz und gewachste Kacheln, Leder und den Duft von Speisen. Als er die große Kammer erreichte, sah er einige Männer, die am Feuer saßen, Wein tranken und sich gegenseitig von ihren Reisen berichteten.
Der Wirt stand am Tresen: ein stämmiger, untersetzter Mann, der Cugel kaum bis zur Schulter reichte. Nicht ein einziges Haar zeigte sich auf dem rundlichen Kopf, und der dichte Bart war mindestens eine Elle lang. Die dicken Lider hatten sich halb über seinen ein wenig aus den Höhlen tretenden Augen geschlossen. Der Gesichtsausdruck jenes Mannes war ruhig und gelassen, und in seiner Trägheit ähnelte er dem Strom, dessen Wasser sich kaum zu bewegen schienen. Als Cugel nach einem Zimmer fragte, rieb sich der Wirt unsicher die Nase. »Es sind bereits alle belegt, mit Pilgern, die nach Erze Damath reisen. Heute nacht muß ich dreimal so viele Leute unterbringen, wie dort auf den Bänken sitzen. Doch wenn du im Flur schlafen willst, gebe ich dir gern eine Matratze. Mehr kann ich leider nicht für dich tun.«
Cugel gab ein mürrisches, enttäuschtes Seufzen von sich. »Das entspricht allerdings nicht ganz meinen Erwartungen. Ich wünsche mir nichts sehnlicher als ein ruhiges Zimmer mit einem weichen Bett, einem Fenster, durch das man auf den Fluß blicken kann, und einem dicken Teppich, der das Grölen und Singen aus dem Gemeinschaftsraum dämpft.«
»Ich fürchte, da muß ich dich enttäuschen«, erwiderte der Wirt gleichgültig. »Es wohnt bereits jemand in dem Raum, den du gerade beschrieben hast – jener Mann mit dem hellen Bart, der dort drüben sitzt. Ein gewisser Lodermulch, der auch nach Erze Damath unterwegs ist.«
»Du könntest ihm sagen, daß es sich um einen Notfall handelt«, schlug Cugel vor. »Vielleicht könntest du ihn dazu bewegen, das Zimmer zu verlassen und an meiner Stelle im Flur zu schlafen.«
»Ich bezweifle, ob er zu einem solchen Verzicht bereit ist«, entgegnete der Wirt. »Warum fragst du ihn nicht selbst? Ich ziehe es vor, ihn nicht mit einem solchen Anliegen zu belästigen.«
Cugel beobachtete den Mann namens Lodermulch. Er musterte das scharfgeschnittene Gesicht, die muskulösen Arme, und er bemerkte auch die herablassende Art, mit der er auf die Erzählungen der Pilger reagierte. Nach einer Weile teilte er die Einschätzung des Wirts in Hinblick auf den Charakter Lodermulchs, und er sah davon ab, ihm seine Bitte vorzutragen. »Ich glaube, ich begnüge mich mit dem Platz im Flur. Jetzt zu meinem Abendessen: Mir steht der Sinn nach einem prächtigen Stück Geflügel, gut gebraten und garniert, und ich möchte all die Beilagen probieren, die deine Küche anzubieten hat.«
»Meiner Küche sind fast alle Vorräte ausgegangen«, sagte der Wirt. »Ich kann dir nur Linsen auftragen, wie auch den Pilgern. Das Stück Geflügel, von dem du gerade sprachst, ist bereits vergeben: Lodermulch hat es sich für seine Mahlzeit bestellt.«
Verärgert zuckte Cugel mit den Schultern. »Nun gut. Ich wasche mir rasch den Staub aus dem Gesicht, und anschließend genehmige ich mir einen Becher Wein.«
»Hinter dem Haus findest du frisches Wasser und auch einen Trog, der gelegentlich für solche Zwecke verwendet wird. Gegen zusätzliche Bezahlung stelle ich meinen Gästen Salben,wohlriechendes Öl und saubere Kleidung zur Verfügung.«
»Das Wasser genügt mir.« Cugel begab sich auf den Hinterhof und trat an das Becken heran. Nachdem er sich gewaschen hatte, sah er sich um. In einiger Entfernung bemerkte er einen recht massiv wirkenden Schuppen, der aus dicken Bohlen errichtet worden war. Er kehrte in Richtung der Schenke zurück, blieb jedoch nach einigen Schritten stehen und betrachtete den Schuppen erneut. Dann trat er auf ihn zu, öffnete die Tür und sah ins Innere. Sehr nachdenklich geworden, machte er sich auf den Rückweg. Im Gemeinschaftsraum servierte ihm der Wirt einen Becher Glühwein, und damit ließ sich Cugel ein wenig abseits der anderen Gäste auf einer Bank nieder.
Jemand hatte Lodermulch gefragt, was er von den sogenannten Seiltanzenden Evangelisten hielt. Es handelte sich dabei um Leute, die es aus Glaubensgründen ablehnten, die Füße auf den Boden zu setzen, und deshalb balancierten sie dauernd über Seile. Mit scharf klingender Stimme führte Lodermulch die Gründe dafür auf, warum er jene besondere Doktrin für närrisch erachtete. »Sie meinen, die Erde sei neunundzwanzig Äonen alt, obgleich doch alle wissen, daß bisher nur dreiundzwanzig vergangen sind. Des weiteren behaupten sie, auf jeder Quadratelle des Bodens seien zwei Millionen und zweihundertfünfzigtausend Menschen gestorben und zu Staub zerfallen. Auf diese Weise sei überall auf der Erde eine dicke Schicht aus Verwesungsmasse entstanden, die man nicht betreten dürfe, wolle man kein Sakrileg begehen. Dieses Argument zeichnet sich durch eine nur oberflächliche Plausibilität aus: Wenn für den Staub einer vollkommen verwesten und ausgedörrten Leiche nur eine Quadratelle zur Verfügung steht, so müßte er eine Schicht bilden, die ein dreiunddreißigstel Zoll dick wäre. Angesichts der bereits erwähnten Gesamtzahl aller Toten ergäbe sich daraus folgendes: Die ganze Erde müßte in einen eine Meile dicken Mantel aus Leichenstaub gehüllt sein. Und das ist erwiesenermaßen nicht der Fall.«
Ein Mitglied der betreffenden Sekte – in Ermangelung der rituellen Seile trug der Mann sperrige Zeremonienschuhe – erhob empört Einspruch. »Du sprichst ohne jede Logik oder Vernunft! Wie kannst du nur so sicher sein?«
In offensichtlichem Verdruß hob Lodermulch die buschigen Augenbrauen. »Muß ich wirklich in die Einzelheiten gehen? Die Klippen an der Küste des Meeres, die eine Höhe von einer Meile erreichen – folgen sie etwa dem Verlauf der Wassergrenze? Überall herrscht Uneinheitlichkeit. Landzungen erstrecken sich in die Ozeane, und die Strände bestehen aus reinem weißen Sand. Nirgends lassen sich die hohen Massen aus grauem Tuff finden, die es nach den Lehren deiner Sekte geben müßte.«
»Das ist doch dumme Phrasendrescherei!« entfuhr es dem Seiltänzer.
»Wie soll ich das verstehen?« fragte Lodermulch und spannte die Muskeln. »Willst du mich verhöhnen?«
»Nein, ich verhöhne dich nicht, sondern weise deinen Dogmatismus mit aller Entschiedenheit zurück! Wir glauben, daß ein Teil des Staubes ins Meer geweht wurde, und ein anderer schwebt nach wie vor in der Luft. Eine nicht geringe Menge rieselte durch Ritzen und Spalten in unterirdische Höhlen, und noch mehr wurde von Bäumen, dem Gras und bestimmten. Insekten aufgenommen. Dadurch beträgt die Dicke des Ahnensediments auf der Erde nur rund eine halbe Meile, und wir ehren unsere Vorfahren und halten es für ein Sakrileg, das zu betreten, was von ihnen übrigblieb. Warum die Klippen, die du eben erwähntest, nicht zu sehen sind? Dafür tragen die Verwesungssäfte der Millionen Leichen die Verantwortung. Sie ließen den Meeresspiegel so stark ansteigen, daß das Wasser alles bedeckte. Und genau darin besteht dein Denkfehler!«
»Pa«, brummte Lodermulch und wandte sich ab. »Ich bin trotzdem sicher, daß du mit deinen Vorstellungen von falschen Annahmen ausgehst.«
»Mitnichten!« hielt ihm der Evangelist mit dem fanatischen Eifer entgegen, der für die Mitglieder seiner Sekte typisch war. »Wir wissen, daß wir recht haben, und da wir unsere Vorfahren respektieren, benutzen wir Seile und Gestelle, um uns fortzubewegen! Wenn wir weite Reisen unternehmen müssen, verwenden wir spezielles und geweihtes Schuhwerk.« Während dieses Wortwechsels hatte Cugel den Raum verlassen. Ein rundgesichtiger junger Bursche kam nun herein. Er trug den Kittel eines Hausdieners und näherte sich der
Gruppe. »Bist du der ehrenwerte Lodermulch?« fragte er den
athletisch gebauten großen Mann.
Lodermulch lehnte sich zurück. »In der Tat, der bin ich.«
»Ich habe eine Nachricht für dich, von jemandem, der eine gewisse Summe mitbrachte, die er dir schuldet. Er wartet in einem kleinen Schuppen hinter der Schenke.«
Überrascht runzelte Lodermulch die Stirn. »Und du bist sicher, daß man dir auftrug, dich an Lodermulch zu wenden, den Provost der Stadtgemeinde Bariig?«
»Ja, Herr, diesen Namen nannte er mir.«
»Und wie sah der Mann aus, der dir die Botschaft für mich gab?«
»Er war groß, trug einen weiten Kapuzenmantel und stellte sich mir als ein Bekannter von dir vor.«
»Seltsam«, brummte Lodermulch. »Vielleicht Tyzog? Oder Krednip? Aber warum kam der Betreffende nicht direkt zu mir? Nun, sicher gibt es dafür einen guten Grund.« Er stemmte seine massige Gestalt in die Höhe. »Ich sehe einmal nach.«
Er schritt aus dem Gemeinschaftsraum, wanderte um die Schenke herum und blickte in Richtung des Schuppens. Inzwischen war es schon fast ganz dunkel. »He da!« rief er. »Tyzog? Krednip? Komm hervor!«
Keine Antwort. Lodermulch näherte sich dem Schuppen und trat ein. Kaum war er drinnen, stieß Cugel die Tür zu und verriegelte sie rasch.
Er schenkte dem Pochen und den dumpfen Rufen keine Beachtung und kehrte in die Schenke zurück. Dort wandte er sich an den Wirt. »Wir sollten umdisponieren. Lodermulch mußte fort. Er erhebt weder auf das Zimmer noch die Geflügelmahlzeit Anspruch. Er war so freundlich, beides mir zu überlassen.«
Der Wirt zupfte sich am Bart, trat auf die Tür zu und sah über die Straße. »Wie seltsam! Er hat sowohl für die Unterkunft als auch das Essen bezahlt, und über die Möglichkeit einer Rückerstattung haben wir nicht gesprochen.«
»Wir trafen eine Übereinkunft, die uns beide zufriedenstellt. Ich bin bereit, dir für deine zusätzliche Arbeit drei Tiercen zu zahlen.«
Der Wirt zuckte mit den Schultern. »Mir soll’s recht sein. Komm, ich zeige dir dein Quartier.«
Das Zimmer gefiel Cugel sehr, und kurz darauf wurde die Mahlzeit serviert. Das gebratene Geflügel schmeckte köstlich, und das traf auch auf die Beilagen zu, die Lodermulch ebenfalls bestellt hatte und die nun vom Wirt aufgetragen wurden.
Bevor er sich zur Nachtruhe zurückzog, schlenderte Cugel noch einmal zum Schuppen und vergewisserte sich, daß die Tür fest verschlossen war und vermutlich niemand auf die heiseren Schreie Lodermulchs aufmerksam werden konnte. Laut klopfte er an die eine Wand. »Gib Ruhe, Lodermulch!« rief er streng. »Ich bin’s, der Wirt! Mach nicht solchen Lärm; damit störst du den Schlaf meiner Gäste.«
Er wartete keine Antwort ab, begab sich wieder in den Aufenthaltsraum und begann dort ein Gespräch mit Garstang, dem Anführer der Pilger. Es handelte sich um einen dürren hageren Mann mit wächserner Haut, einem kleinen Kopf, tief in den Höhlen liegenden Augen und einer geraden und so schmalen Nase, daß sie geradezu transparent wirkte, wenn das Licht im richtigen Winkel einfiel. Er sprach ihn als einen erfahrenen und sicher sehr gelehrten Reisenden an und fragte, welcher Weg nach Almery führte. Doch Garstang schien jene Region für nichts weiter als ein Phantasieland zu halten.
Cugel schüttelte den Kopf. »Almery existiert wirklich. Dafür garantiere ich.«
»Dann weißt du mehr als ich«, entgegnete Garstang. »Der Strom dort draußen heißt Asc. Das Gebiet diesseits davon wird Sudun genannt, das auf der anderen Seite Lelias. Im Süden erstreckt sich Erze Damath. Jene Region solltest du aufsuchen, um dann nach Westen weiterzureisen, durch die Silberne Wüste ans Songanmeer. Möglicherweise erhältst du dort Auskunft.«
»Ich werde deinen Rat beherzigen«, sagte Cugel.
»Wir sind fromme Gilfigiten und nach Erze Damath unterwegs, um an den Weihe-Ritualen in der Nähe des Schwarzen Obelisken teilzunehmen«, erklärte Garstang. »Da wir durch Wüsten ziehen müssen, haben wir uns vereint, denn die Gemeinschaft ist stärker als der einzelne. Du kannst dich uns gern anschließen und die Vorzüge der Gruppe genießen. Allerdings mußt du dich auch an die Gebote halten.«
»Die Vorzüge der Gruppe sind mir durchaus klar«, erwiderte Cugel. »Aber was hat es mit den Geboten auf sich?«
»In der Hauptsache geht es darum, dem Anführer zu gehorchen – also mir – und einen Teil der Kosten zu tragen.«
»Damit bin ich ohne Einschränkungen einverstanden«, sagte Cugel.
»Ausgezeichnet! Wir brechen beim Morgengrauen auf.« Garstang deutete auf einige der Männer im Aufenthaltsraum – insgesamt gehörten der Gruppe siebenundfünfzig Personen an, die jedoch nicht alle anwesend waren. »Das ist Vitz, unser Lokutor, und dort sitzt Casmyre, der Theoretiker. Der Mann mit den eisernen Zähnen heißt Arlo, und der mit dem blauen Hut und der silbernen Spange ist Voynod, ein Zauberer, der einen recht guten Ruf genießt. Der zwar sehr ehrenwerte, aber agnostische Lodermulch leistet uns derzeit keine Gesellschaft, ebensowenig wie der unerschütterlich gläubige Subucule. Vielleicht versuchen sie gerade, sich gegenseitig von ihren Einstellungen zu überzeugen. Die beiden Männer, die mit den Würfeln spielen, sind Parso und Salanave. Und dort sitzen Hant und Cary.« Garstang nannte noch einige weitere Namen und beschrieb die Besonderheiten der Betreffenden. Nach einer Weile gähnte Cugel demonstrativ und zog sich in sein Zimmer zurück. Er streckte sich auf dem Bett aus und schlief sofort ein.
Spät in der Nacht wurde er gestört. Lodermulch hatte einen Tunnel gegraben, war auf diese Weise in die Freiheit zurückgelangt und suchte sofort die Schenke auf. Vor dem von ihm gemieteten Zimmer blieb er stehen und klopfte an die Tür, die Cugel in weiser Voraussicht sorgfältig verriegelt hatte.
»Wer ist da?« fragte Cugel.
»Mach auf! Ich bin’s, Lodermulch. Du schläfst in meinem Bett!«
»Was für ein Unsinn!« erwiderte Cugel. »Ich habe einen stolzen Preis für diese Unterkunft bezahlt, und außerdem mußte ich auch noch darauf warten, daß der Wirt den Mann hinaussetzte, der vor mir hier wohnte. Laß mich in Ruhe! Du bist wahrscheinlich betrunken. Wenn du noch immer Durst hast, so gib dem Weinkellner Bescheid.«
Mit schweren Schritten ging Lodermulch fort. Und Cugel legte sich wieder hin.
Kurz darauf vernahm er ein dumpfes Pochen, gefolgt von dem Schrei des Wirts, als Lodermulch an seinem Bart zerrte. Mit den vereinten Kräften des Wirtes, seiner Gattin, des Hausdieners und einiger anderer gelang es schließlich, den wütenden Lodermulch hinauszuwerfen. Woraufhin Cugel zufrieden die Augen schloß und wieder einschlief.
Noch vor der Morgendämmerung standen Cugel und die Pilger auf und nahmen das Frühstück ein. Der Wirt schien nicht besonders guter Laune zu sein, und in seinem Gesicht zeigten sich einige blaue Flecken. Doch er stellte keine Fragen, und Cugel sprach ihn ebenfalls nicht auf die Ereignisse während der vergangenen Nacht an.
Nach dem Frühstück versammelten sich die Pilger vor der Schenke, und dort schloß sich ihnen Lodermulch an, der den Rest der Nacht damit verbracht hatte, auf der Straße auf und ab zu gehen.
Garstang zählte seine Gruppe und blies dann in seine Pfeife. Die Pilger marschierten los, überquerten die Brücke und wanderten am südlichen Ufer des Asc entlang in Richtung Erze Damath.
Das Floß auf dem Strom
Drei Tage lang wanderten die Pilger am Asc-Strom entlang, und des Nachts schliefen sie hinter einer Barriere, die der Zauberer Voynod mit Hilfe eines Amuletts aus Elfenbeinsplittern beschwor. Diese Vorsichtsmaßnahme erwies sich auch als notwendig, denn jenseits des thaumaturgischen Schutzwalls, der sich im flackernden Schein des Feuers nur als ein trüber und kaum zu erkennender Dunst zeigte, huschten verschiedene Geschöpfe durch die Nacht und schienen ganz versessen darauf zu sein, sich der Gruppe anzuschließen: Deodanden, die wispernd flehten, Nachtschatten, die einmal auf vier Beinen umhersprangen, dann nur auf zwei und dabei alles andere als anmutig wirkten. Einmal versuchte ein Schleichteufel, über die Barriere hinwegzuspringen. Bei einer anderen Gelegenheit warfen sich drei Heuler gegen die magische Wand. Sie prallten daran ab, wichen zurück und stürmten erneut los, ohne das Hindernis durchbrechen zu können. Und die ganze Zeit über sahen die Pilger fasziniert zu.
Cugel trat ganz dicht an den dunstigen Wall heran und schlug mit einer brennenden Fackel nach einem der Phantome. Es gab einen wütenden Schrei von sich. Ein langer grauer Arm streckte sich ihm entgegen, und Cugel sprang gerade noch rechtzeitig zurück. Die Barrikade hielt stand, und bald machten sich die sonderbaren Wesen knurrend auf und davon.
Am Abend des dritten Tages erreichten die Wanderer die Stelle, an der der Asc in einen anderen breiten Strom mündete, den Garstang Scamanderfluß nannte. Ganz in der Nähe erstreckte sich ein Wald aus Knollenkiefern, hohen Pinien und Stacheleichen. Einige einheimische Holzfäller halfen ihnen beim Glätten und Zuschneiden von Baumstämmen, die anschließend an die Wassergrenze gerollt wurden. Dort begann man dann mit dem Bau eines Floßes. Alle Pilger gingen an Bord, und kurz darauf glitt das Gefährt in die Strömung und trieb langsam und elegant flußabwärts.
Fünf Tage dauerte die Reise mit dem Floß über den Scamanderstrom. Manchmal gerieten die Ufer fast außer Sicht, und dann wieder waren sie dem hohen Riesgras so nahe, daß man nur die Hand hätte ausstrecken müssen, um es zu berühren. Die Pilger vertrieben sich die Zeit, indem sie lange Diskussionen führten, was in bezug auf viele Dinge eine erstaunliche Meinungsvielfalt offenbarte. Ab und zu erörterten sie metaphysische Rätsel und Mysterien oder die subtilen Aspekte der gilfigitischen Prinzipien.
Subucule war der gläubigste aller Pilger, und er legte seineÜberzeugungen detailliert dar. Er erklärte alle Einzelheiten der orthodoxen gilfigitischen Theosopie: Die achtköpfige Gottheit Zo Zam, führte er aus, habe nach der Erschaffung des Universums einen Zeh verloren, der zu Gilfig wurde, während die Blutstropfen die Entstehungsgrundlage der acht verschiedenen Menschenvölker bildeten. Roremaund, ein Skeptiker, stellte diese Doktrin in Frage: »Und wer erschuf deinen hypothetischen Schöpfer? Ein anderer Gott? Wesentlich einfacher ist es, das Ende der Welt zu beschreiben: eine flackernde Sonne samt sterbender Erde!« Daraufhin setzte Subucule zu einer entrüsteten Gegenrede an und lies es sich dabei nicht nehmen, die Gilfigitischen Texte zu zitieren.
Ein Mann namens Bluner legte kühn sein eigenes Glaubensbekenntnis ab. Er ging davon aus, daß die Sonne eine Zelle im Körper einer gewaltigen Gottheit war, die den Kosmos erschaffen hatte – in einem Prozeß, der seiner Ansicht nach mit dem Wachstum von Flechten auf Felsen verglichen werden konnte.
Subucule hielt diese These für zu übertrieben. »Wenn die Sonne eine Zelle sein soll, worin besteht dann die Natur der Erde?«
»Sie ist eine Ansammlung von Mikroorganismen, die ihre Nahrung von der Hauptzelle erhalten, der Sonne«, erwiderte Bluner. »Solche Abhängigkeitsverhältnisse sind auch aus anderen Bereichen bekannt und stellen nichts Erstaunliches mehr dar.«
»Und die Sonne?« warf Vitz spöttisch ein. »Handelt es sich bei ihr vielleicht um eine Zelle, die ihrerseits aus anderen Mikroorganismen besteht? Wie soll das alles denn enden?«
Bluner begann mit einer umfangreichen Erklärung seines Weltbildes, doch schon nach kurzer Zeit wurde er von Pralixus unterbrochen, einem hochgewachsenen dünnen Mann mit stechenden grünen Augen. »Hört mir zu! Ich weiß alles. Meine Doktrin ist ganz schlicht und einfach. Es sind viele Zustände denkbar, und die Anzahl der Unmöglichkeiten ist noch größer. Unser Kosmos ist ein möglicher Zustand: Er existiert. Warum? Die Zeit stellt eine unendliche Größe dar, und das bedeutet, daß sich irgendwann jede Möglichkeit verwirklicht. Da wir in diesem besonderen Zustand leben und keinen anderen kennen, neigen wir dazu, dem Jetzt eine absolute Qualität zuzuschreiben. In Wirklichkeit jedoch werden irgendwann alle Universen existieren, die denkbar sind, und zwar nicht nur einmal, sondern mehrfach.«
»Ich bin zwar ein frommer Gilfigit, habe mir jedoch eine ähnliche Anschauung zu eigen gemacht«, bemerkte Casmyre, der Theoretiker. »Meine Philosophie geht von einer Abfolge einzelner Schöpfer aus, von denen jeder einzelne unabhängig ist. Um die Worte des gelehrten Pralixus ein wenig abzuwandeln: Wenn ein Gott möglich ist, muß er auch existieren! Der achtköpfige Zo Zam, der seinen Heiligen Zeh verlor, ist möglich, und deshalb gibt es ihn auch, so wie es in den Gilfigitischen Texten geschrieben steht!«
Subucule zwinkerte, öffnete den Mund, um etwas zu sagen, und schloß ihn gleich wieder. Roremaund, der Skeptiker, wandte sich um und betrachtete das Wasser des Scamanderflusses.
Garstang saß abseits der anderen Pilger und lächelte nachdenklich. »Und du, Cugel der Schlaue – du bist sehr schweigsam geworden. An was glaubst du?«
»Ich weiß noch nicht so recht«, sagte Cugel nach einer Weile. »Ich habe verschiedene Ansichten und Einstellungen kennengelernt, und die meisten davon sind ziemlich autoritärer Natur und schließen alle anderen Konzepte aus. Ich hörte die Meinungen der Priester aus dem Tempel der Teleologen, die eines verzauberten Vogels, der Weissagungskarten aus einer Schachtel zog. Und ich lauschte auch den Worten eines fastenden Anachoreten, der rosafarbenes Elixier aus einer Flasche trank, die ich ihm anbot. Alle jene Visionen sind zwar sehr widersprüchlich, aber auch außerordentlich interessant. Daraus ergibt sich bei mir ein synkretisches Weltbild.«
»Faszinierend«, sagte Garstang. »Was ist mit dir, Lodermulch?«
»Hah!« knurrte Lodermulch. »Sieh nur diesen Riß in meiner Hose – ich kann ihn nicht erklären! Und die Existenz des Universums verwundert mich noch viel mehr.«
Andere Pilger ergriffen das Wort. Der Zauberer Voynod erklärte den bekannten Kosmos als Schatten einer Welt, die von Geistern beherrscht wurde, von Phantomen, die für ihr Leben die psychischen Energien der Menschen brauchten. Der fromme Subucule lehnte diese Ansicht ab und betonte, sie widerspreche den Protokollen von Gilfig.
Die Diskussion setzte sich fort. Nach einiger Zeit langweilten sich Cugel und einige andere, darunter auch Lodermulch, und sie beschäftigten sich mit einem Glücksspiel, bei dem Würfel, Karten und Münzen Verwendung fanden. Die Einsätze waren erst klein, wurden aber rasch größer. Zuerst gewann Lodermulch fast ständig, doch anschließend verlor er mit der gleichen Regelmäßigkeit, und Cugel steckte das Geld ein. Es dauerte nicht lange, und Lodermulch schleuderte die Würfel zu Boden, griff nach dem Ellbogen Cugels und schüttelte ihnheftig, wodurch einige weitere Würfel unter dessen Ärmel hervorrutschten. »Nanu«, brummte Lodermulch, »was haben wir denn hier? Ich hatte die ganze Zeit über das Gefühl, daß Betrug im Spiel ist. Und hier haben wir den Beweis. Gib mir sofort mein Geld zurück!«
»Wie kannst du das behaupten?« hielt ihm Cugel entgegen. »Wo ist der Beweis für den angeblichen Schwindel? Ich trage Würfel bei mir – na und? Muß ich denn meinen ganzen Besitz in den Fluß werfen, bevor ich ein Spiel beginnen kann? Du hast meine Ehre befleckt!«
»Das ist mir gleich«, erwiderte Lodermulch. »Ich will die Münzen.«
»Kommt nicht in Frage«, sagte Cugel. »Du hast keinen Grund, mir irgendwelche Vorwürfe zu machen.«
»Keinen Grund?« donnerte Lodermulch. »Willst du mich verspotten? Sieh dir nur diese Würfel an! Sie sind manipuliert. Einige von ihnen tragen die gleichen Markierungen auf drei Seiten, und andere rollen ganz langsam, weil eine bestimmte Kante beschwert ist.«
»Nun, es sind eben keine gewöhnlichen Würfel«, erklärte Cugel. Er deutete auf Voynod den Zauberer, der die ganze Zeit über zugesehen hatte. »Hier haben wir einen Mann, dessen Augen ebenso scharf sind wie sein Verstand. Fragen wir ihn, ob ihm irgendwelche Rechtswidrigkeiten aufgefallen sind.«
»Nicht die geringste«, antwortete Voynod. »Meiner Meinung nach hat sich Lodermulch zu einem übereilten Vorwurf hinreißen lassen.«
Garstang bemerkte die Kontroverse und trat herein. Er wählte besonders vorsichtige Worte und versuchte den Streit zu schlichten. »Weggefährten und fromme Gilfigiten – in einer Gemeinschaft wie der unsrigen spielt das Vertrauen eine große Rolle. Für Betrügereien und Schwindel gibt es bei uns keinen Platz! Lodermulch, gewiß machst du dir ein falsches Bild von unserem Freund Cugel!«
»Wenn sein Verhalten für fromme Pilger typisch ist«, knurrte Lodermulch rauh, »so kann ich von Glück sagen, nicht in der Begleitung gewöhnlicher Leute unterwegs zu sein!« Im Anschluß an diese Worte begab er sich in eine Ecke des Floßes, ließ sich dort nieder und bedachte Cugel mit wütenden Blicken.
Garstang schüttelte kummervoll den Kopf. »Ich fürchte, so einfach ist Lodermulch nicht zu besänftigen. Vielleicht solltest du ihm in einer Geste der Freundschaft seine Münzen zurückgeben…«
Davon wollte Cugel nichts wissen. »Hier geht’s ums Prinzip. Lodermulch hat meinen wertvollsten Besitz in Frage gestellt: meine Ehre.«
»Deine festen Grundsätze sind lobenswert«, erwiderte Garstang, »und ohne Zweifel hat sich Lodermulch sehr taktlos verhalten. Doch um der guten Kameradschaft willen… Nein? Nun, ich will dir nicht weiter zusetzen. Ach – ständig kommt es zu kleinen Ärgernissen.« Er schüttelte den Kopf und ging.
Cugel steckte sowohl seinen Gewinn ein als auch die Würfel, die ihm Lodermulch aus dem Ärmel geschüttelt hatte. »Ein peinlicher Zwischenfall«, wandte er sich an Voynod. »Dieser Lodermulch ist wirklich ein Rüpel! Er hat alle Leute vor den Kopf gestoßen, und nun will keiner mehr spielen.«
»Vielleicht liegt das daran, weil sich bereits das ganze Geld in deinen Taschen befindet«, meinte Voynod.
Cugel zählte die Münzen, die er gewonnen hatte, und er gab sich überrascht. »Ich hätte gar nicht gedacht, daß eine so große Summe zusammenkam! Wie wär’s, wenn du das Gold hier an dich nimmst und mir damit die Mühe ersparst, es mit mir zu schleppen?«
Voynod war einverstanden, und ein Teil des Gewinns wechselte den Besitzer.
Kurze Zeit später, während das Floß noch ruhig in der trägen Strömung trieb, begann das Licht der Sonne bedrohlich zu flackern. Ein purpurner Schleier schien für einige Sekunden ihren Glanz zu verdunkeln und verflüchtigte sich dann wieder. Einige der Pilger gerieten außer sich, eilten hin und her und riefen: »Die Sonne erlischt! Bereitet euch auf die Kalte Nacht vor!«
Doch Garstang hob beruhigend die Hand. »Habt keine Furcht! Das Flackern hat aufgehört, und die Sonne strahlt wie zuvor!«
»Denkt doch einmal nach!« forderte Subucule seine Gefährten ernst auf. »Würde Gilfig etwa eine solche Katastrophe zulassen, während wir auf dem Weg sind, um beim Schwarzen Obelisken an den Weiheritualen teilzunehmen?«
Daraufhin legte sich die Aufregung wieder, was jedoch nichts daran änderte, daß jeder der Reisenden eine ganz persönliche Erklärung für das seltsame Ereignis hatte. Der Lokutor Vitz sah daran eine Analogie zur vorübergehenden Beeinträchtigung der Sehkraft, wie sie von heftigem Zwinkern hervorgerufen werde. Voynod hingegen erklärte: »Wenn in Erze Damath alles gutgeht, werde ich mich während der nächsten vier Jahre meines Lebens damit befassen, die Leuchtkraft der Sonne wiederherzustellen!« Lodermulch meinte nur heiser, wenn es nach ihm ginge, könne die Sonne ruhig dunkel werden; und er würde sich freuen zu erleben, wie sich die Pilger einen Weg durch die Kalte Nacht tasteten, um den Obelisken zu erreichen.
Doch die Sonne schien wie zuvor. Das Floß glitt über den breiten Scamanderstrom, dessen Ufer nun so niedrig und kahl waren, daß sie nur als schmale Linien in der Ferne beobachtet werden konnten. Der Tag verstrich, und der glühende Ball schien im Fluß zu versinken. Ein kastanienbrauner Schimmer entstand am Horizont, trübte sich rasch und wich dem Zwielicht der Abenddämmerung.
In jenem Halbdunkel wurde ein Feuer entzündet, und die Pilger hockten sich davor nieder und nahmen eine Mahlzeit ein. Bei den Gesprächen ging es erneut um das Flackern der Sonne, und einige Leute gaben sich eschatologischen Spekulationen hin. Subucule schrieb alle Verantwortungen für Leben, Tod, Zukunft und Vergangenheit allein Gilfig zu. Haxt erklärte jedoch, er würde sich weitaus besser fühlen, wenn Gilfig bisher eine kundigere Kontrolle über das offenbart hätte, was die Welt bewegte. Eine Zeitlang wurden die Diskussionen ziemlich erregt geführt. Subucule warf Haxt Oberflächlichkeit vor, und Haxt wiederum machte Gebrauch von solchen Worten wie ›Leichtgläubigkeit‹ und ›blindes Vertrauen‹ Garstang griff ein und meinte, bisher seien noch nicht alle Fakten bekannt, und die Weihe-Riten am Schwarzen Obelisken könnten zu einer Klärung der Situation führen.
Am nächsten Morgen sahen sie voraus ein großes Wehr: Dutzende von dicken Pfählen bildeten eine Barriere, die die Schiffahrt auf dem Fluß behinderte. Es gab nur einen Durchlaß, und selbst der konnte mit einer schweren eisernen
Kette abgeriegelt werden. Die Pilger ließen das Floß ganz dicht an die Lücke herantreiben, und dann warfen sie den Stein über Bord, der als Anker diente. Ein Zelot kam aus einer nahen Hütte hervor, eine Gestalt mit langen Haaren und dürren Gliedmaßen. Sie trug eine fleckige schwarze Kutte und schwang einen eisernen Stab. Der Zelot sprang aufs Wehr und bedachte die Leute auf dem Floß mit finsteren Blicken. »Zurück, zurück!« rief er. »Die Passage über den Fluß unterliegt meiner Kontrolle. Und ich lasse niemanden vorbei!« Garstang trat vor. »Ich bitte dich um Nachsicht! Wir sind Pilger, die an den Weihe-Riten von Erze Damath teilzunehmen gedenken. Wenn es notwendig sein sollte, bezahlen wir dafür, dieses Wehr passieren zu dürfen, obgleich wir hoffen, daß du in deiner Großzügigkeit auf einen solchen Tribut verzichtest.«
Der Zelot lachte krächzend und hob seinen eisernen Stab. »Ich verzichte niemals auf Wegezoll! Ich verlange das Leben des bösesten Mannes unter euch – es sei denn, es gibt jemanden in eurer Mitte, der mir seine Rechtschaffenheit beweisen kann!« Breitbeinig stand er auf dem Wehr, und seine schwarze Kutte flatterte im Wind. Aus blitzenden Augen starrte er auf das Floß.
Unruhe breitete sich unter den Pilgern aus, und Dutzende von unsicheren Blicken wurden gewechselt. Brummende Stimmen erklangen, und innerhalb kurzer Zeit wurde daraus ein lärmendes Durcheinander aus Behauptungen und angeblichen Feststellungen. Schließlich übertönte die schrille und kreischende Stimme Casmyres alle anderen. »Ich kann nicht der Böseste sein, denn ich habe ein einfaches und asketisches Leben geführt. Und als ich während des Spiels die Möglichkeit sah, einen unehrenhaften Vorteil zu nutzen, nahm ich sie nicht wahr.«
Jemand anders rief: »Ich bin noch tugendhafter, denn ich esse nur Hülsenfrüchte, um mich am Leben zu erhalten.«
Ein weiterer Pilger: »Und ich kann noch größere Gewissenhaftigkeit für mich in Anspruch nehmen, ernähre ich mich doch nur von den Hülsen jener Früchte – und von alter Borke, die von Baumstämmen abfiel. Ich habe immer darauf geachtet, selbst das pflanzliche Leben zu respektieren.«
Und noch jemand: »Mein Magen lehnt sogar pflanzliche Dinge ab, doch ich teile jene ehrenhafte Einstellung, und nur Abfälle passieren meine Lippen.«
Und eine andere Stimme: »Ich bin einmal durch einen See aus Feuer geschwommen, um einer alten Frau mitzuteilen, daß es vermutlich niemals zu dem Unglück kommen wird, das sie befürchtet.«
Cugel erklärte: »Ich führe ein Leben unablässiger Demut, und mit unerschütterlicher Hingabe unterwerfe ich mich den Geboten der Gerechtigkeit und Gleichheit – obzwar mir das nur selten Dank einbringt.«
Voynod klang nicht weniger überzeugt: »Ich bin zwar ein Zauberer, doch ich setze meine Künste nicht zu eigennützigen Zwecken ein und stelle sie allein in den Dienst der Öffentlichkeit.«
Schließlich hatten alle Pilger das Wort ergriffen – bis auf Lodermulch, der ein wenig abseits stand. Ein grimmiges Lächeln umspielte seine Lippen. Voynod deutete auf ihn. »Sprich, Lodermulch! Beweise deine Rechtschaffenheit. Sonst müssen wir dich als den Bösesten von uns erachten, und dadurch wäre dein Leben verwirkt.«
Lodermulch lachte. Er drehte sich um und sprang mit einem weiten Satz auf den nächsten Pfahl der Barriere. Von dort aus kletterte er auf die Brustwehr, zog sein Schwert und bedrohte damit den Zeloten. »Ich mag böse sein, aber du bist es ebenfalls, denn schließlich warst du es, der uns eine solche Entscheidung aufzwang. Löse die Kette, oder ich stoße dir mein Schwert in den Leib!«
Der Zelot hob die Arme. »Meine Forderung ist erfüllt. Du, Lodermulch, hast deine Rechtschaffenheit bewiesen. Ich lasse das Floß durch. Und da du bereit warst, deine Ehre mit dem Schwert zu verteidigen, gebe ich dir einen Balsam: Wenn du ihn auf die Klinge streichst, kann sie Stahl oder Granit so leicht durchschneiden, als handele es sich um Butter. Und nun: Setzt eure Reise fort und gelangt während der Weihe-Riten zu neuen Erkenntnissen!«
Lodermulch nahm den Balsam entgegen und kehrte zu den anderen Pilgern zurück. Der Zelot löste die Kette, und kurz darauf trieb das Floß durch den schmalen Durchlaß im Wehr.
Garstang trat auf Lodermulch zu und brachte ihm gegenüber ein mäßiges Lob in Hinsicht auf sein Eingreifen zum Ausdruck. Vorsichtig fügte er hinzu: »In diesem Fall gereichte ein impulsives und geradezu ungehöriges Verhalten zu unserem Vorteil. Doch wenn wir irgendwann in eine ähnliche Lage geraten, möchte ich, daß du dich zunächst mit Leuten berätst, deren Klugheit außer Zweifel steht: mit mir, Casmyre, Voynod oder Subucule.«
Lodermulch brummte gleichgültig. »Wie du meinst – solange mich die daraus erfolgende Verzögerung nicht in Schwierigkeiten bringt.« Und damit mußte sich Garstang zufriedengeben.
Die anderen Pilger warfen Lodermulch vorwurfsvolle und argwöhnische Blicke zu, und sie wichen von ihm fort. Allein blieb er im vorderen Bereich des Floßes zurück.
Der Nachmittag schloß sich an, dann der Sonnenuntergang, der Abend und die Nacht. Am nächsten Morgen stellten Garstang und die anderen fest, daß Lodermulch nicht mehr zugegen war.
Dieser Umstand rief allgemeine Verwirrung hervor. Garstang stellte Fragen, doch niemand schien etwas zu wissen oder eine Erklärung für jenen geheimnisvollen Vorgang anbieten zu können.
Seltsamerweise stellte das Verschwinden des nicht sonderlich beliebten Lodermulch keineswegs die ursprüngliche fröhliche Stimmung wieder her. Den ganzen Tag über saßen die Pilger schweigend und mit ernsten Mienen auf dem Floß und blickten dann und wann nach rechts und links. Es kam weder zu weiteren Spielen noch zu neuerlichen philosophischen Diskussionen, und die Ankündigung Garstangs, Erze Damath sei nun nur noch eine Tagesreise entfernt, rief keine große Begeisterung hervor.